Der rasche Blick auf das Glas unseres Smartphones ist Alltag für uns – vielleicht hören wir mittels einer App gerade Erläuterungen zu großen lichtdurchfluteten Fenstern einer gotischen Kirche und betrachten bei hoher Auflösung und optimaler Farbwiedergabe die Glasfenster im Chorraum.
Was müssen dagegen die Menschen im Jahr 1144 gedacht haben, als sie die erste Kathedrale, einen Palast aus Licht, die Abteikirche St. Denis bei Paris, betreten haben. Die Vision des Abts Suger für seine Klosterkirche wurde Wirklichkeit. Der Blick nach oben in ein hohes Gewölbe filigraner Struktur mit steinernen Rippen, die sich sanft in Spitzbögen treffen, öffnet die Aussicht auf riesige Fenster. Die hindurchfallenden Sonnenstrahlen verwandeln die Wände in imposante, bunte und sich laufend verändernde Lichtspiele ( Abb. 1). „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ steht im Evangelium des Johannes. So sah es auch Abt Suger, der die Fenster selbst gestaltete und vom Licht, dem neuen farbigen Licht in Bann gezogen wurde. Diese Faszination bunter, überdimensionaler Glasfenster ist die Schöpfung der Gotik. Der Plan von St. Denis (Osteologie 2/14, Seite 147, Abbildung 1, [ArchitekturmodellKathedrale]) zeigt die großen offenen Fensterausschnitte, die mit der Fläche eines Fußballfeldes vergleichbar sind (etwa 7000 qm). Die Säulen sind scheinbar nur Rahmen für die vielen Kunstwerke aus Glas.
Die Säulenstruktur ist mit dem inneren Knochenaufbau vergleichbar, die Stabilität der Kathedrale wird besonders durch die großen Glasfenster erreicht. Die kleinen farbigen Glaselemente werden durch Bleiruten gehalten, die analog dem feinen Knochengerüst zur Statik, Stabilität und Struktur beitragen. Die Farbgebung zwischen den Bleiruten können wir daher mit der Knochensubstanz, den Osteozyten vergleichen. Es findet ein ständiger Knochenaufbau wie Knochenabbau statt, dessen Funktion im Glasfenster mit seinen gesamten Prozessen künstlerisch farbig umgesetzt ist. Die Faszination ist begründet, denn so große Lichtfenster aus farbigem Glas gab es bis dahin noch nicht. Dabei ist Glas keine Erfindung dieser Zeit, es ist so alt wie die Erde, entstand unter großer Hitze aus Quarzsand bei Vulkanausbrüchen oder Blitzeinschlägen. Etwa 3500 v. Chr. wurde Glas erstmals von Menschen, zufällig, wahrscheinlich in Ägypten, hergestellt. Die ältesten, bisher gefundenen Glasgefäße wurden um das Jahr 1500 v. Chr. datiert. Die Glasmacherpfeife, die heute noch so wie damals angewandt wird, war etwa 200 v. Chr. eine technische Revolution, sie ist ein bis eineinhalb Meter lang. Bei hohen Temperaturen geschmolzene Glas- masse konnte damit aufgenommen und analog einer Seifenblase mit dem Strohhalm aufgeblasen werden. Unter erneutem Erhitzen und Aufnahme von Glasmasse konnten immer größere Glaskolben, Zylinder oder Flaschen hergestellt werden.
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MRZ
2015